Arzthaftung - Medizinrechtliche Beiträge

Dieser Artikel zum Thema "Überflüssige Operationen" ist auch im Juni 2014 auch in Printform erschienen. Zum Download.

Behandlung um jeden Preis - Unnötige Operationen

Dr. Marcel Vachek – Fachanwalt für Medizinrecht, Passau

Anfang 2014 veröffentlichte der Krankenhaus-Report 2014 der AOK aufschreckendes Zahlenmaterial: Von den knapp 19 Millionen jährlich in Deutschland durchgeführten Krankenhausbehandlungen sei jede Hundertste (ca. 188.000) fehlerhaft, jede Tausendste (ca. 18.800) führe gar zu einem tödlichen Fehler. Die Richtigkeit dieser Zahlen unterstellt, bedeutet dies, in deutschen Kliniken ereignen sich jedes Jahr fünfmal so viele vermeidbare Todesfälle wie im Straßenverkehr. Während die Zahl der Verkehrstoten seit Jahren rückläufig ist, steigt die der ärztlichen Behandlungsfehler.

Sind die Deutschen so krank, dass sie immer mehr Operationen benötigen? Sicherlich ist es so, dass ständig neue Operationsverfahren entwickelt werden, die den natürlichen, degenerativen Abbauprozess verlangsamen helfen. War noch vor wenigen Jahrzehnten bei vollständigem Meniskusaufbrauch oder einer erheblichen Hüftarthrose ein Weiterleben mit Krücken oder im Rollstuhl vorgezeichnet, so kann heute eine Teil- oder Totalendoprothese in Knie oder Hüfte ein relativ unbeschwertes Weiterleben bieten.

Trotzdem belegt diese AOK-Studie, dass in Deutschland weit mehr Operationen durchgeführt werden, als medizinisch notwendig sind. Aber warum wird in Deutschlands Krankenhäusern so viel operiert? Die Antwort ist einfach: Jede Operation bringt Geld.

Ein kurzer Rückblick: Noch vor einigen Jahren wurden im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erbrachte Krankenhausleistungen über die sog. tagesgleichen Pflegesätze abgerechnet. Hier wurde von den GKVs also nicht nur die Operation, sondern jeder Pflegetag zu einem gleichhohen Tagessatz vergütet. Der Leser wird so verstehen, warum er früher trotz raschen Heilungsfortschritts oft erst nach einem Wochenende entlassen wurde, obwohl an diesem die ärztliche Versorgung auf ein Minimum reduziert war: Es wurde eben die Anzahl der Krankenhaustage vergütet.

Inzwischen hat sich der Trend gewendet: Ein Klinikaufenthalt wegen einer Standard-Operation, der noch vor wenigen Jahren 10 bis 14 Tage dauerte, wird heute in nur 3 Tagen, nicht selten sogar ambulant in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) durchgeführt. Woran liegt das?

Vorweg: Mit besseren Operationsmethoden haben diese verkürzten Liegezeiten meist nicht zu tun. Vielmehr waren der GKV die hohen Behandlungskosten bezogen auf die Aufenthaltsdauer ein Dorn im Auge. So kam es zur gesetzlichen Einführung der sog. Diagnosebezogenen Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, kurz: DRGs), die sich nicht länger an der Verweildauer, sondern an der bestimmten Diagnose und einer am Konferenztisch ausgehandelten Behandlung orientierten. Dies sollte zur Kosteneinsparung   führen und hat es auch. Ein weiterer durchaus gesetzgeberisch gewollter Effekt der Einführung der DRGs ab dem Jahr 2003 war, dass sich vor allem kleinere Kreiskrankenhäuser zunehmend auf bestimmte Behandlungen (z. B. Knie- und Hüftgelenksersatz) spezialisierten, dagegen andere (z. B. internistische) Behandlungen nicht mehr durchführten. Leidtragende sind die Patienten, die nun nicht mehr immer wohnortnah behandelt werden können. Allerdings bringt die Spezialisierung der Krankenhäuser durchaus Vorteile im Qualitätsbereich mit sich. Jedoch müssen sich die hohen Investitionskosten für eine moderne High-Tech-Ausstattung der OP-Säle, auch nach dem neuen Abrechnungssystem bei Operationen amortisieren. Dies führt nicht selten dazu, dass Patienten operiert werden, bei denen ein Eingriff nicht zwingend erforderlich wäre. Dies entspricht auch der Einschätzung von Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement an der Uni Duisburg-Essen (Passauer Neuen Presse vom 22. Januar 2014, S. 4): „Es gibt Anreizwirkungen durch das Fallpauschalensystem, mehr zu operieren. Wir haben in einer Studie festgestellt, dass insbesondere in den Fällen das Wachstum sehr hoch war, bei denen man durch Mengenausweitung besonders leicht Deckungsbeiträge erzielen kann, weil die Fixkosten hoch, die Kosten des einzelnen Falls aber gering sind.“

Diese Entwicklung, mehr zu operieren, führt mitunter dazu, dass Patienten, die sich nicht so schnell nach einer OP erholen, in einem noch nicht entlassungsfähigen Zustand entlassen werden. Grund hierfür ist, dass jeder verlängerte Klinikaufenthalt für das Krankenhaus Mehrkosten verursacht, welche durch die Fallpauschale nicht ausreichend abgedeckt sind. Gerade, wenn die Entzündungsparameter (CRP, Leukozyten) bei Patienten noch deutlich erhöht sind oder die Wundheilung noch nicht ausreichend ist, kann eine zu frühe oder gar „blutige“ Entlassung zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen, mit der Folge, dass ein Patient erneut stationär aufzunehmen ist. Die Neuaufnahme löst aber eine neue Fallpauschale aus.

Wie ist eine überflüssige Operation rechtlich zu beurteilen? Liegt dem Krankenhausaufenthalt ein medizinisch nicht indizierter Eingriff zugrunde, so sind nach Auffassung der Rechtsprechung besonders hohe Anforderungen an die Grundaufklärung des Patienten zu stellen (vgl. nur OLG München, Az. 1 U 4853/02, OLGR 2004, S. 126; OLG Düsseldorf, NJW-RR 2003, S. 1331 f., 1332). Ganz allgemein gilt: „Je weniger dringlich der Eingriff sich – nach medizinischer Indikation und Heilungsaussicht – in zeitlicher und sachlicher Hinsicht für den Patienten darstellt, desto weitergehend ist das Maß und der Genauigkeitsgrad der Aufklärungspflicht“ (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl.,  S. 202, Rn 8).

Erst vor kurzem hat das Oberlandesgericht (OLG) Köln mit Urteil vom 18. September 2013 – 5 U 40/13 diese Rechtsprechung bestätigt:

„Unterlässt ein behandelnder Arzt gegenüber dem Patienten eine Aufklärung darüber, dass eine von ihm vorgesehene Behandlung über das Maß des medizinisch Notwendigen hinausgeht, so ist er seinem Patienten gegenüber zum Schadensersatz wegen vertraglicher Pflichtverletzung verpflichtet. Der Schaden umfasst dabei auch die Kosten dieser medizinisch nicht indizierten Behandlung.“

Dennoch wird in Deutschland weiter unnötig viel operiert, weil der Rubel aufgrund des hohen Kostendrucks der Krankenhäuser rollen muss. Ein konkretes Beispiel für unnötig durchgeführte Operationen: Die bekannte US-amerikanische Moseley-Studie zu Kniegelenksoperationen aus dem Jahre 2002 (NEJM 2002 347, S. 81 ff.) hat nachgewiesen, dass eine arthroskopische Revisionsoperation Beschwerden beim Patienten nicht besser lindert, als wenn diese gar nicht vorgenommen wird, sofern nicht ausnahmsweise ein Fall einer durch Einklemmung verursachten Bewegungseinschränkung vorliegt. Diese Ergebnisse wurden durch eine Studie kanadischer Forscher bestätigt (vgl. NEJM 2008: 359, S. 1097 ff.), in der Débridements (Knorpelglättungen) und andere Operationen, die auf die Beseitigung von Schäden an Menisken gerichtet waren, mit konservativen Behandlungen derselben Schäden verglichen worden waren; im retrospektiven Vergleich war auch hier das Outcome beider Gruppen nahezu identisch. Die Studienergebnisse wurden mehrfach im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht, so dass jeder Chirurg das Bewusstsein haben müsste, dass es – außer im Fall von Einklemmungen – meist überhaupt keiner Knieoperation bei Meniskusproblemen bedarf. Bezeichnend ist, dass viele Ärzte an sich selbst derartige operative Eingriffe ohne Not nicht vornehmen lassen.

Der Verfasser dieses Artikels vertrat vor einiger Zeit einen Patienten vor dem OLG München (Az. 1 U 3057/09), der sich aufgrund einer aktivierten Arthrose nach einer fehlerhaften Knorpelglättung ohne vorherige Einklemmungserscheinungen nur noch mit Gehhilfen fortbewegen konnte. In der mündlichen Verhandlung wurde der gerichtlich bestellte Sachverständige, zugleich Chefarzt für Chirurgie, mit der oben erwähnten Moseley-Studie konfrontiert, um so die Fehlerhaftigkeit der Operation wegen fehlender OP-Indikation zu begründen. Geschickt fragte der gerichtliche Gutachter den ebenfalls anwesenden Privatgutachter des Patienten, Chefarzt eines weiteren Krankenhauses, ob dieser in derartigen Fällen denn nicht selbst auch operiert hätte. Der Privatgutachter schwieg daraufhin; offenbar, weil er derartige Fälle in seinem Haus aufgrund der Vorgaben seiner Krankenhausverwaltung ebenfalls operiert hätte. Im Ergebnis wurde in dem Verfahren daher zwar ein Aufklärungsfehler, nicht aber ein Behandlungsfehler wegen der unnötig durchgeführten Operation festgestellt. Das OLG hatte offensichtlich nicht den Mut, die Fehlentwicklung im Gesundheitswesen durch ein wegweisendes Urteil zu korrigieren.

Eine weitere Ursache für unnötig vorgenommene Operationen können bestimmte Fallzahlen für Operationen sein, die Ärzte benötigen, um ein Spezialisierungszertifikat zu erlangen. Zudem erhalten Chefärzte von Krankenhäusern oftmals Boni, die vom Erreichen zuvor festgelegter Zahlen für bestimmte Operationen abhängig sind. Es ist nicht auszuschließen, dass dies den einen oder anderen unnötigen operativen Eingriff hervorbringt.

Zudem lässt sich die Zahl derjenigen operationswürdigen Patienten nicht beliebig durch Erweiterung des Einzugsbereichs eines Krankenhauses erhöhen. Auch deswegen ist wahrscheinlich, dass eine relative OP-Indikation zu einer absoluten OP-Indikation umgedeutet wird. Im Fall von Kniebeschwerden kann dies bedeuten, dass ein Knie nicht erst klinisch durch Palpation (Abtasten) und Streckübungen untersucht wird, sondern dass gleich ein Termin zur Arthroskopie bestimmt wird.

Kein chirurgischer Bereich ist von unnötigen Operationen ausgenommen. Ein weiterer Fall aus der Kanzlei des Verfassers: Ein Patient störte sich optisch an sich kreuzenden Schneidezähnen. Konservativ war tatsächlich keine Abhilfe möglich. Bei dem Privatpatienten wurde eine komplizierte Umstellungsoperation der Kieferknochen empfohlen und durchgeführt, die zu Nervverletzungen im Gesichtsbereich und zu mehrfachen Nachoperationen führte. Mit wesentlich geringerem operativem Aufwand hätten hier alternativ die beiden Frontzähne gezogen und Implantate eingesetzt werden können. Dies zeigt, dass überflüssige Operationen auch Folgeprobleme oder gar weitere Behandlungsfehler nach sich ziehen können.

Der immer höhere Kostendruck im Gesundheitssystem wird zum Überlebenskampf für viele Kreiskrankenhäuserwerden, was die Anzahl der durchgeführten Operationen ansteigen lässt, wobei dieser Operationsablauf vermehrt Züge einer Fließbandtaktung des Behandlungsguts Mensch annimmt. Die Ökonomisierung des Gesundheitssektors höhlt damit das von der caritas geprägte christliche Menschenbild immer mehr aus, das ein echtes Bemühen um das Patientenwohl entsprechend des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter auszeichnet. Auch wenn in der Öffentlichkeit der Patient und seine Rechte propagiert werden, so zuletzt im Februar 2013 anlässlich der Einfügung des sog. Patientenrechtegesetzes in die §§ 630a ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), geht es Krankenhäusern wie Krankenkassen oftmals vorrangig leider nur um eines: Mit der Krankheit des Patienten viel Geld zu verdienen bzw. einzusparen. Nicht nur Menschen, die krank sind, bedürfen daher (oft, nicht immer) einer Operation; auch das Gesundheitssystem selbst muss einem Eingriff mit dem Skalpell unterzogen werden.

Was praktisch tun?

Um einen wirksamen Schutz vor überflüssigen Operationen zu erreichen, sollte sich ein Patient vor einem geplanten operativen Eingriff über alle Behandlungsalternativen, d. h. andere Operationsarten wie auch über konservative, also nicht-operative Therapien zur Behebung des Grundleidens, sowie über die speziellen Risiken jeder Therapieform, von dem Arzt, der den Eingriff vornehmen will, ausführlich beraten lassen. Die Aufklärung sollte in zeitlich so ausreichendem Abstand vor dem Eingriff erfolgen, dass der Patient noch die Möglichkeit hat, sich auch anders zu entscheiden. Es wird empfohlen, sich den Aufklärungsbogen mit der Dokumentation des Arztes aushändigen lassen; hierauf besteht nach § 630e Abs. 2 S. 2 BGB ein gesetzlicher Anspruch. Auch kann die Einholung einer Zweitmeinung bei einem anderen Mediziner von Vorteil sein.

 

Dr. jur. Marcel Vachek aus Passau ist Fachanwalt für Medizinrecht und Vertrauensanwalt des Medizinrecht-Beratungsnetzes. Die Kanzlei Dr. Vachek Rechtsanwälte (www.kanzlei-vachek.de) vertritt im Arzthaftungsrecht bundesweit ausschließlich die Patientenseite.

 
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